Mehr Hilfegesuche wagen

Katharina ist Teil einer wunderbaren Gruppe von 25 Menschen, die seit einigen Jahren gemeinsam einen Adventskalender gestalten. Jede teilnehmende Person fertigt 24 mal eine Kleinigkeit an, so dass am Ende jeder einen Kalender mit 24 Überraschungen hat.

Der Inhalt des 8. Dezember war ein Brief mit einer Buchempfehlung und einem Link zur Folge Emilia Roig: Lieber Sohn oder So rettest du die Welt des BR-Podcasts Buchgefühl, in der sowohl die Autorin zu Wort kommt als auch Passagen des Buches gelesen werden. Bei einem Spaziergang heute habe ich mir die Folge zu Gemüte geführt und bin am Ende mit vielen Gedanken, Inspirationen und einem Vorsatz für 2026 herausgekommen.

Mir war Emilia Roig vorher kein Begriff und falls dir das genauso geht, gibt es hier die Kurzzusammenfassung: Französische Autorin, Politologin und Aktivistin mit Themenschwerpunkt Intersektionalität, lebt in Berlin, in meine Generation einsortierbar. Das Buch ist einerseits ein Brief an ihren Sohn und andererseits ein Manifest für ein neues Miteinander, vielleicht sogar eine neue Gesellschaftsform. Es geht um das Konzept der radikalen Fürsorge, also Fürsorge für sich selbst, die Menschen um sich herum und die anderen Lebensformen, wie Pflanzen und Tiere. Weg von der Fürsorge für das Kapital und mit Geld verbundene/n Macht und Status und hin zu Beziehungspflege. Das Ziel: Ein Leben, das sich aus Erfahrungen durch Verbindung mit uns, mit anderen, mit anderen Lebewesen speist, und kein bloßes Überleben basierend auf der Erforderlichkeit des Funktionierens, auf Lohnarbeit und Absicherung.

Solche Texte und Gedanken rennen bei mir erst einmal offene Türen ein, denn ich bin mir sicher, dass wir eine neue Gesellschaftsform dringend nötig haben. Ich wäre gern Teil einer Lösung oder zumindest einer neuen Utopie, schrecke dann aber schneller als mir lieb ist vor entsprechenden Gedanken zurück, da mir das nötige Wissen in den Bereichen politische Theorie, Soziologie und Kulturwissenschaften fehlt. Bücher dieses Formats und Aufnahmen von Gesprächen mit Denker*innen und Forscher*innen wie Emilia Roig ziehen mich jedoch wieder in ihren Bann und ermöglichen es mir, in einem abgesteckten Rahmen zu denken und zu träumen.

Vieles, was in dem Podcast diskutiert und von der Autorin erörtert wird, bringt in mir was zum Schwingen, decken sich doch die meisten Thesen mit meinen Überzeugungen; oder anders gesagt: Ich maße mir eine gewisse Intuition an, dass folgende Thesen richtig sind:

Gelesene Passagen aus dem Buch streifen weitere Themen, die ich als positiv bewerte und als erstrebenswert erachte: Altruismus, Kooperation, Gemeinschaft und eben Suffizienz. Nur wie kommen wir da hin?

Ich hab’ keinen blassen Schimmer und mein Gefühl sagt mir, dass auch das Lesen des Buches keine klare Lösung liefern wird. Aber zwei Gedanken habe ich jetzt schon aus dem Podcast mitgenommen und ich hege die Hoffnung, dass ich diese Gedanken in mein Sein und meine Arbeit verweben kann.

1. Kleine Schritte statt radikalem Systemumbruch

Vielleicht braucht es für eine bessere Welt ja gar nicht die große Radikalität. Emilia Roig benennt bei der Problemsuche zwar auch das politische System und fragt nach der Notwendigkeit von Anarchie, aber sie erarbeitet auch das Bild von kleinen Inseln und Netzwerken, in denen neue Regeln kultiviert werden können.

ABER—und ich finde sehr schön, dass sie dieser Kritik Raum gibt—diese Alternativen dürfen nicht nur Privilegierten zugänglich, keine bloßen Flucht- oder Rückzugsorte sein, sondern offen für jeden sein oder mindestens Brücken schlagen und als Startpunkt für Solidarität gelten. Sonst handelt es sich nur um Eskapismus mit schönem Anstrich.

Da klingeln bei mir—mit meiner Erfahrung aus bald drei Jahren Arbeit mit NGOs und zivilgesellschaftlichen Vereinen—ja alle Alarmglocken. Ich werde mir vornehmen, meine Arbeit hinsichtlich der Offenheit für alle kritisch zu hinterfragen. Mir ist bewusst, dass „alle“ ein sehr schwammiger Begriff ist, dass das bloße Hinterfragen vielleicht schon zum Scheitern verurteilt ist. Dennoch bin ich mir sicher, dass da noch Luft nach oben ist. Ensprechende Maxime zur Grundlage des eigenen Handelns zu machen und das eigene Wirken auf diese regelmäßig kritisch abzuklopfen kann so schlecht auf jeden Fall nicht sein.

Ich merke beim Schreiben dieser Worte aber schon, dass ich ins Schwimmen komme. Als weißer, mitteleuropäischer, cis-Mann fühle ich mich nicht kompetent genug, solchen Gedanken hier allein nachzuhängen. Also los zum zweiten erbaulichen Gedanken. Konkreter. Klarer. Und mein Vorsatz für 2026.

2. Mehr Hilfegesuche wagen

Für den kompletten Gedankengang muss ich erst einmal das Buch lesen, aber er geht ungefähr so: Selbstfürsorge—die echte, nicht Duftkerzen und Spa-Tage—war nie als Ersatz für Fürsorge durch die Gemeinschaft gedacht. Vielleicht kommen wir diesen kleinen, solidarischen Netzwerken also wieder näher, wenn wir statt Selbstoptimierung und Isolierung wieder Abhängigkeiten eingehen. Ein erster Impuls kann es dann sein, die eigene Hilfe noch konsequenter und häufiger anzubieten.

Aber was, wenn wir nach diesem Impuls uns auch selber Unzulänglichkeiten eingestehen und mehr nach Hilfe fragen?

Dieser Gedanke macht viel mit mir! Einerseits, weil Hilfegesuche in einer Welt des Turbokapitalismus und Ableismus nicht en vogue sind. Und alles was in dieser Welt schwer ist, hat meiner Meinung nach ein riesiges Potenziel das Richtige zu sein. Andererseits, weil ich mich selber schon viel zu oft des mangelnden Anforderns von Hilfe schuldig gemacht habe.

Dabei unterstützt meine Erfahrung diese Zurückhaltung überhaupt nicht: Nach Hilfe fragen festigt und intensiviert die Bindung zu den Menschen, die mir helfen. Ergebnisse werden besser. Niederlagen werden geteilt. Der Lerneffekt ist größer. Ich schlafe besser.

Klar: Die Angst, als inkompetent oder ungenügend wahrgenommen zu werden, ist präsent und mächtig. Diese Angst gilt es für mich im Jahr 2026 zu überwinden. Und wer weiß, vielleicht ist das ja ein Startschuss für mehr.